Band: Shantel & Cümbüs Cemaat
Album: Istanbul
VÖ: 08.05.2020
Label: Essay Recordings / Indigo
Website: www.bucovina.de/site.html
Es muss Liebe sein!
Diese Produktion ist eine Utopie in dystopischen Zeiten. Mit dem Album „Istanbul“ von Shantel & Cümbüş Cemaat öffnet sich ein utopischer Raum zwischen Frankfurt am Meer und Istanbul am Bosporus. In diesem wurde mit Respekt und Hingabe ein neuer Dialog der Popkulturen versucht. Dialog der Kulturen, das klingt doch abgedroschen – oder? Geben wir uns aber nicht vorschnellen Urteilen hin, sondern gehen lieber mit Shantel auf eine Zeitreise.
Anfang der Nuller Jahre brach Shantel mit seiner Geschichte als führender europäischer Electronica-, Trip Hop- und Downbeat-Produzent und erfand sich neu. Eine Reise in die Heimat seiner Vorfahren, gepaart mit seiner alten Liebe zu griechischer & arabesker Musik, ließen ihn neue Soundterritorien ausloten. Der Bucovina Club mit seiner euphorischen Stimmung war geboren. Die Produktionen „Bucovina Club“, eine wilde Mischung verschiedenster südosteuropäischer Sounds & Beats, brachte das Gefühl der durchgetanzten Clubnächte in die heimische Stereoanlage. In „Bucovina Club 2“, manifestierte sich der logische nächste Schritt des Musikers: Er ging mit Künstlern ins Studio, um eigenes Material aufzunehmen, remixte und erfand neue Songs für die populärsten Kapellen. Irgendwann zwischen beiden Schritten schrieb ein guter Freund seinem Buddy Ahmet Ulug, dem Impresario des legendären Club Babylon in Istanbul, und fragte ihn, ob er denn nicht einmal diesen Shantel einladen wolle, der hätte einen interessanten Ansatz und wäre überhaupt der einzige musikalische Export aus Deutschland, den man sich in Istanbul vorstellen könnte. Und das Magische passierte: Während es im hüftsteifen Europa noch eine mühsame Aufgabe war, das Publikum zum Abgehen zu bewegen, fand Shantel im kosmopolitischen Babylon eine Konzentration von kreativem Potential vor: eine feierwütige Meute aus Undergroundmusikern, Avantgardekünstlern, Modemachern, Intellektuellen, Party-Kids und Bohemians. Die Nächte waren lang, nach dem Tanzen ging man in die Meyhanes von Galata oder Kadiköy weiterfeiern, trinken, diskutieren, essen, um am frühen Morgen mit Kaffee oder Cay die ersten Sonnenstrahlen über dem Bosporus zu genießen. In dieser Atmosphäre entstanden auch die ersten Ideen für das legendäre „Disko Partizani“-Video, der titelgebende Song seines 2006 Chart-Hit-Albums. Istanbul hatte Shantel adoptiert und eingebürgert, das Album erschien auf Double Moon, dem Label des Babylon Clubs. Es erhielt Doppel-Platin für das bestverkaufteste Werk eines ausländischen Künstlers. Disko Partizani wurde als Jingle für die Übertragungen von Fußballballspielen auf dem reichweitenstärksten Sender des Landes ausgewählt und jahrelang vor allen Spielen der ersten wie der zweiten Liga gespielt. Es war so, als ob die Stadt auf einen neuen Soundtrack gewartet hätte, dessen Treibsatz avancierte Electronica, traditionelle Musik und Shantels eigene Soundhybride im Bucovina-Style waren. Fatih Akin, regelmäßiger Gast im Babylon, wurde auf Shantel aufmerksam, lud ihn ein, Musik für seine Filme zu schreiben. Nach Paris, Tel Aviv und Athen nahm er seinen Zweitwohnsitz im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Istanbul gab Shantel immer mehr Liebe zurück als seine Heimatstadt Frankfurt.
Istanbul war für Shantel schon immer mehr als nur ein Ort, an dem man erfolgreich auftreten kann, er mochte es in die lokale Kultur einzutauchen und er überlegte schon seit einiger Zeit, wie er seine Hommage an die lokale Musikkultur gestalten könnte. Im Herzen des berüchtigten TomTom Viertels befindet sich der Club Anahit Sahne, derzeit der wichtigste Underground Club Istanbuls und gleich daneben die Ziba Bar, der Hang-out von Cümbüş Cemaat. Die Band ist seit dreizehn Jahren aktiv, spielte auf legendären Partys und Hochzeiten, rockte die Clubs in Beyoglu, als Beyoglu noch der heißeste Partyhotspot der Stadt war. Cümbüş Cemaat – eine für Taxim typische Band – hat fünfhundert Lieder in ihrem Repertoire und nie eines aufgenommen, wenn man von ihrer Beteiligung am Film „Djam“ von Tony Gatlif absieht. In der Ziba Bar gibt man sich Raki mit Mezze hin und lässt sich die Ohren mit einem die Gehörgänge elektrisierenden Sound spülen: anatolische psychedelische Skalen treffen auf Discobeats; modale Ausschmückungen, Arabesk und Rembetiko verschmelzen zu einer Einheit. Allen Klischees zur Erbfeindschaft beider Völker zum Trotz sind griechische Musik und Bouzouki-Klänge in Istanbul sehr beliebt. Der in Smyrna geborene und nach Piräus ins Exil gegangene Rembetiko wurde hier – nach Meinung des bekannten irisch-griechischen Soundmagiers Ross Daly – schon immer mit mehr Seele gespielt. Shantel hat seine musikalische Karriere in einer der ersten Neo-Rembetiko-Bands Deutschlands gestartet. Es trafen sich also mal wieder die Richtigen.
Man machte sich gemeinsam an die Arbeit, Cümbüş Cemaats kreative Anarchie und Shantels Ideen wie seine Fähigkeiten als Produzent zu fusionieren. Shantel lud die Band nach Frankfurt ein, um ein Album aufzunehmen. Bei der Repertoire-Auswahl knüpfte man sich ausgewählte türkische Songs vor, die Shantel & Cümbüs Cemaat schon immer am Herzen gelegen haben. Die wichtigste Aufgabe war eine gemeinsame Sprache zu finden, aus jedem Song die Essenz herauszudestillieren und für jedes Stück ein Bild entstehen zu lassen. In der Produktion wählte Shantel eine Herangehensweise, die das Akustische bzw. Analog-elektrische in den Fokus nimmt. Die Struktur bleibt dabei traditionell modale mit einem Bordun (Grundton) in D oder E-Dur. Es geht darum, den hypnotischen Anteil von Anatolian Neo-Folk auf eine neue Ebene zu heben. Man stelle sich vor seinem inneren Ohr einen gut abgehangenen Blues vor, der sich in ein 70er Jahre Disco-Stück mit Electro-Beat verwandelt. Letztendlich so, wie wir es von elektrischer Saz-Musik oder Anadolu-Rock (Barış Manço, Erkin Koray und Selda Bağcan) kennen. Im Zentrum der Produktion standen ein analoger Fender-Gitarrenverstärker (Princeton Reverb Silverface aus dem Jahre 1966) und Ribbon-Mikrofone mit den passenden Röhrenverstärkern. Abgemischt wurde das Album auf einem alten analogen Mischpult, dessen Klang weltberühmt ist, denn Snap nahmen damit u.a. ihren Chart-Hit „I’ve Got the Power“ auf.
Wir halten in unseren Händen einen geerdeten musikalischen Hybrid, der sich so tatsächlich nur in der Diaspora entwickeln konnte, denn in der Türkei herrscht derzeit ästhetischer Stillstand, eine Identitätskrise der jungen Generation, die keine echte Perspektive mehr sieht. Der Braindrain hat die lokale Szene noch weiter geschwächt, denn viele Künstler haben nur noch die Aussicht, sich außerhalb des Landes darzustellen. Vielleicht kann dieses Album ja in beide Richtungen wirken: In unsere: „Seht her, hier gibt es faszinierende Klänge zu entdecken, hier wird noch ein Sound gelebt, eine Utopie die Hoffnung macht“. Und in die andere Richtung: „Macht weiter, überrascht uns und Danke dafür.“
Es muss Liebe sein!
Infos zur vorherigen Veröffentlichung:
Band: Shantel
Album: The Bucovina Club Years
VÖ: 02.03.2018
Label: Essay Recordings / Indigo
Website: www.bucovina.de/site.html
Shantel hat seine einzigartige Karriere in den 80ern gestartet. 80er? Da war doch was? Diese Musik, die gerne auf Themenpartys verhandelt wird... Nein, ganz anders! Die 80er sind hier die Chiffre für das, was alles zu diesem Zeitpunkt möglich war. Punk hatte den Mief des immer inhaltsleereren Glamrock und seine Stereotypen weggefegt und die Köpfe freigemacht. In den frühen 80ern hielt diese frische Brise noch an, bevor es mit dem kommerziellen Ausverkauf der DIY-Ideale sich wieder schloss, der Pop synthetisch wurde und die MTV-Culture übernahm. Einer, der das Spiel schon damals nicht mitmachen wollte, war ebenjener Shantel. Aktiv im Untergrund des Bauchnabels Deutschlands, Frankfurt am Main, betrieb er dort im heute ultra-hippen Bahnhofsviertel einen illegalen Underground-Club, in dem musikalisch alles möglich war und heftig experimentiert wurde. Hier traf sich eine international bunt gemischte Szene aus Kunststudenten, Bohemiens, Langzeitakademikern, jungen Musikern, Immigranten, Schwulen und Lesben und gestrandete Freaks aus aller Herren Länder. Im 3. Stock eines Gründerzeithauses gelegen, zog der Club mit seinem eklektische Ansatz Massen von ebenso abenteuerlustigen Nachtschwärmern und Clubgängern an wie das Licht die Motten. Der Andrang war so groß, dass die Schlange der Wartenden oft bis zum nächsten Häuserblock reichte. Und das, obwohl das Bahnhofsviertel auf Platz eins der deutschen Kriminalitätsstatistik lag. Shantels Devise war: „Vorwärts in alle Richtungen, lasst uns experimentieren und demonstrieren.“ Eine Demo gab es in der Demo- Hauptstadt Deutschlands jeden Samstag. Sounds des Widerstandes und der Vielfalt schallten aus den Lautsprecherwagen: Roots-, Dub-Reggae und Arab-Pop.
Dub-Reggae, ein Musikstil, der Shantel sehr beeinflussen sollte, brasilianische Musik, Oriental- und Arab-Pop ebenso. Aber wollen wir hier Stil-Erbsen zählen? Wichtig ist doch viel mehr das, was sich für Shantel aus der Rezeption verschiedenster musikalischer Genres ergab. Er realisierte, dass wann immer ein neuer Stil seine Nase zeigte, er früher oder später statisch wurde und damit langweilig. Man nehme nur das Beispiel Techno – kaum einer weiß heute, dass Frankfurt am Main die Geburtsstube dessen deutscher Ausformung war. Aber auch Techno war nur bedingt Shantels Ding. Also selber machen, was Neues anfangen, wieder und wieder und wieder. Ab 1986 sahen wir Shantel mit einem griechisch-türkischen Underground-Projekt auf der Bühne. Sie spielten für die griechisch-türkischen Communities in ganz Deutschland den damals schwer angesagten griechischen Outlaw-Blues Rembetiko, und Shantel lieferte die Beats dazu. In seinem Bahnhofsviertel-Club Lissania Essay drehte Shantel die Turntables und mixte Rhythmen sowie Soundfetzen aus dem Sampler dazu. Nordafrika, Brasilien, Jamaika, Elektrobeats, Trip Hop und Jazz in the mix. Ein Song, eine Struktur, ein Rhythmus erreichte die Tanzenden so intensiv, dass ihre Arme hochgingen und die Kehlen Glücksgeheul ausstießen – das war der Ansporn, diesen Moment zu verlängern und das Spaceship Lissania zum Abheben zu bringen. Und bis heute ist es nicht gelandet, denn bis zum heutigen Tag gibt es nicht ein Konzert, nicht eine DJ-Session, die nicht von dem Gefühl befeuert waren, alles zu geben, mit dem Publikum zu verschmelzen und Glückseligkeit in die Gesichter zu zaubern. Kaum einer versteht den Dancefloor besser und findet intuitiv immer die richtige Antwort als Shantel – egal ob mit seinem Bucovina Club Orkestar oder ganz alleine als DJ.
Das Lissania und später der Bucovina Club waren einige der sehr raren Gelegenheiten, bei denen sich unterschiedliche Szenen und Altersgruppen trafen. Sie verband eines: Sie waren neugierig und bereit, sich unerhörten Klängen hinzugeben. Und Shantel war es wichtig, neue Ideen, Verrücktes, Unbekanntes via Musik in diese verkrustete Stadt zu tragen: Ideen, Visionen, die ganz woanders herkamen - Paris, Thessaloniki, Tel Aviv, Istanbul. Kurz gesagt Shantel und die Szene, die sich um ihn formierte, war kosmopolitisch und am Austausch interessiert. Er war als einer der deutschen Pioniere des sogenannten Freestyle-Clubbing bald weltweit gefragt, spielte an der Seite von MC Solaar, Kruder & Dorfmeister, Gilles Peterson, Massive Attack, Björk und Howie B. Doch war ihm das genug? Er stellte irgendwann fest, dass auch diese Szene dabei war, sich zu verkrusten bzw. leerzulaufen. Auf einer K7-Labelnacht im New Yorker Limelight Club ließ er frenetische Blechmusik südosteuropäischer Hochzeiten aus den Boxen knallen, was auf dem Tanzboden zu Verwirrung führte.
Shantel wäre nicht Shantel, wenn er nicht versucht hätte, diese Situation zu retten und - die Platte noch einmal von vorne zu spielen. Langsam sahen die Partygänger ein, dass sie keine andere Kost serviert bekämen und ließen sich treiben. Schlussendlich: Stampede auf der Tanzfläche.
Shantel entschied sich, auf eine große Reise in seine eigene Familiengeschichte zu gehen, die ihn in die Bucovina, Grenzland zwischen Ukraine und Rumänien brachte. Dort fand er die Musik, die tief in seiner eigenen DNA schlummerte und begann mit ihr zu experimentieren, ging mit den Großen des Genre ins Studio, um seine Vision von einem zeitgenössischen paneuropäischen Sound zu kreieren. Das Schauspiel Frankfurt gab diesem neuen Sound, der sich wie ein Lauffeuer um die ganze Welt verbreitete, eine Bühne. Dass gerade Frankfurt den perfekten Spielboden für seinen Bucovina Club abgab, ist sicher kein Wunder, denn der Hotspot am Main war und ist seit vielen Jahrzehnten die multinationale Metropole der Republik. Interkulturelles Leben und Arbeiten ist hier mit allen Brüchen, Verwerfungen und Schwierigkeiten längst zum prägenden Aspekt des Alltags geworden. Aber auch hier und jetzt bleibt Shantel nicht stehen und räumt mit dem großen Missverständnis auf, er sei der „König des Balkan- Pop“ und er wolle es gar sein, was er in einem Interview mit der BBC anlässlich der Verleihung des BBC-Worldmusic-Awards klarstellte: „Ich habe mit dieser Balkanmusik und diesem Hype eigentlich nichts am Hut. Mir ging es um meine Selbstverwirklichung als Musiker, als Künstler. Deshalb interessieren mich viele Sounds, nicht nur der des Balkans.“
Mit diesem kreativen Ansatz ist Shantel das hörbare Gesicht eines anderen Deutschlands, ist er doch der Erste, der der hiesigen Popkultur einen kosmopolitischen Sound einimpfte. Bei ihm ist Migration hör- und tanzbar. Musikalische Preziosen aus Südosteuropa, dem Nahen Osten oder vom Mittelmeer erscheinen in einem neuen, vielschichtigen Kontext, damit wird auch die Kultur, aus der sie entstammen, intuitiv erfahrbar. Seine Methode ist kulturelles Mixing und Sampling: Dinge aus dem Zusammenhang reißen und in einen neuen überführen. Clubkultur als Konzept, das sich permanent weiterentwickelt und nicht als Museum, in dem das ewig Gleiche repetiert wird – wie in Berlin, wo Tausende von Touristen vor dem Berghain warten, um das Vorhersehbare erleben zu dürfen.
Nun schlägt Shantel mit 30 Jahre Club Guerilla ein neues Kapitel seiner never ending Tour unter dem Motto „Shantology // 30 Years of Club Guerilla“ auf. Zum Fest erscheint Part Eins der bevorstehenden SHANTOLOGY-Trilogie. Die Alben werden voll mit unveröffentlichtem, neu aufgenommenem und bestens abgehangenem Material sein, das eindrücklich die zeitlose Hit-Qualität seiner Musik herausarbeitet. Rückschau – eher nicht, rückblickende Vorausschau – schon eher. Der Disko Partizane liebt es spannend und bleibt für Überraschungen gut. Am 02. März 2018 erscheint der erste Teil der Trilogie: SHANTEL // „THE BUCOVINA CLUB YEARS“. Die Doppel-CD enthält 34 Mixes, Lieder aus einer spannenden Ära beginnend in den späten 90er Jahren bis 2007. Die weiteren Parts der Trilogie sind bereits in Arbeit. Da kommt noch mehr!