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Chaney, Olivia

Band: Olivia Chaney

Album: Shelter

VÖ: 15.06.2018

Label: Nonesuch Records / Warner

Website: www.oliviachaney.com/

Nehmen Sie sich die Zeit und vertiefen sich Olivia Chaneys „Shelter“ – Sie werden reich belohnt werden. Wenn Kirchenglocken die ausklingenden Noten von „Roman Holiday“ in den letzten Song „House on a Hill“ überführen, spornen einen die Momente leuchtender Entschlossenheit dieses Albums ein weiteres Mal dazu an, tief einzutauchen und das Gefühl von Geborgenheit aufzusaugen, das Chaney mit ihrem Werk zu übermitteln hofft.

„Shelter“ ist ein unvergessliches Album von verblüffendem musikalischen Können, getragen von einer exquisiten Stimme und einfühlsamen Kompositionen. „Aber“, sagt Chaney, „die Leute könnten sich hinterher fragen: ist mein Glas halb voll oder halb leer? Meine liebste Kunst schwankt oft dazwischen. Ich lande immer wieder bei Dualitäten und Kontrasten: Rebellion / Gehorsamkeit, geistig / weltlich, Ritual / Chaos, Liebe / Verlust, Schutz / Verwundbarkeit“. Während die Texte, eindringlichen Gesänge und täuschend schlichten Instrumentierungen ihre Magie entfalten, hört man auf „Shelter“ jedoch, dass Chaneys Suche auf einer neuen Stufe angekommen ist, beseelt von einem neuen Gefühl der Hoffnung.

Chaneys Hintergrund und Erfahrung sind aufschlussreich. Geboren in Florenz, wuchs sie in Oxford auf, in einem Haushalt, dessen intellektuelle und künstlerische Beschäftigung von einem weitreichenden musikalischen Horizont abgerundet wurde. Dieser beinhaltete Billie Holiday, Mozart-Opern, Sandy Denny, Prince, Tracy Chapman, Bert Jansch, Michael Jackson und Joni Mitchell. Chaney wurde ein „draufgängerisches, wildes Kind“, das Erfahrungen weit über seinen Background und seine Lebensjahre hinaus sammelte. Der Selbstzerstörung nur knapp entkommend, landete sie „mit einem Stipendium an Londons Royal Academy of Music“, wo sie alles aufsog, was das Konservatorium ihr zu bieten hatte. Ihre unersättliche Neugier führte sie in immer abgelegenere Winkel, von Ligeti bis zu westafrikanischem Pop, Edith Piaf zu Laurie Anderson, Mary Margaret O’Hara zu Lorraine Hunt Lieberson, Sonic Youth zu Sappho, Kate Bush zu alter Country-Musik – all das nahm sie auf, während sie zu ihrer eigenen Stimme fand.

Die beeindruckende Liste an Künstlern, mit denen Olivia Chaney bisher gearbeitet hat, umfasst Zero 7, die Labeque Sisters, Martin und Eliza Carthy, Vesel und Kronos Quartet, mit denen sie zwei Songs auf dem 2017er Nonesuch-Album „Folk Songs“ performte, außerdem hat sie für Robert Plant in New York City eröffnet. Zuletzt war sie Frontfrau von Offa Rex und ihrem Grammy-nominierten Albums „The Queen of Hearts“, ein gemeinsames neues Projekt mit der Alternative-Rockband The Decemberists aus Oregon.

Auf „Shelter“, das von Thomas Bartlett alias Doveman (Sufjan Stevens, St. Vincent, Glen Hansard, Florence Welch, The National, Martha Wainwright und viele weitere) produziert wurde, setzt Chaney ihre Erkundungen der Spannungen und Konflikte zwischen Tradition und zeitgenössischem Leben fort, zugleich ist es die Suche einer modernen jungen Frau nach Liebe und Ganzheitlichkeit. Indem sie die Hörer vor und zurück durch die Zeit schickt, treibt sie sie und die Tracks voran und verwandelt fordernde Themen in fruchtbare. „Colin & Clem“ beginnt mit den Worten: „She is young / He is modern / She comes from / A time forgotten / He strives for things we hate / Believes machines will liberate / A class he is / And escaped“, in „Arches“ dient die gewundene, lyrische Melodie einem romantischen und zugleich zeitgemäßen Plädoyer: „Impossible and true / I hang/ From the ceiling / Turn me off / Or turn me on / Darling / Won’t you let me be light / For you.“

Das Album ist eine bewusste, natürliche Weiterentwicklung von Chaneys Debüt „The Longest River“, das 2015 erschien und von der Kritik hoch gelobt wurde. „Die Zusammenarbeit mit Thomas Bartlett war für mich entscheidend“, sagt Chaney. „Seine Nähe und sein Einfluss auf eine derartig vielfältige und gefeierte Zahl von Künstlern waren von enormer Wichtigkeit. Ich hatte das Gefühl, dass sein Geschmack und sein Verständnishorizont so vielgestaltig wie meiner waren. Thomas verstand meine musikalische Agenda. Er priorisierte die Bedeutung und die Lyrik meiner Kompositionen, anstatt einfach nur auf den fahrenden Zug lärmender Popularität aufzuspringen. Ich wollte ein Album, das so eindringlich wie die Songs ist, die es formen. Die einzigen Musiker sind Thomas und Jordan Hunt, mein langjähriger Kreativpartner, der bei einzelnen Songs Streicher und Background-Gesang ergänzt hat. Wir drei spielen jeden Klang, den man hört.“

„Shelter“ enthält acht neue Songs und zwei Cover, die abwechselnd überwältigen und fesseln. Das von Chaney verarbeitete Material ist so vielschichtig wie die Songs selbst, angefangen bei Klassen- und Religionskonflikten in Nordengland und einer radikalen Überarbeitung von Frank Harford und Tex Ritters „Long Time Gone“ – berühmt geworden durch die Country-Crooner Everly Brothers – über Ray Davis’ Vorschlag, eine Hommage an den amerikanischen Klassiker „A Tree Grows in Brooklyn“ zu schreiben, bis hin zu ihrer kühnen Interpretation von Henry Purcells legendärem „O Solitude“ aus dem 17. Jahrhundert. Sie alle zeigen, dass man Chaney weder in eine konventionelle noch in eine bequeme Form pressen kann. Sie räumt ein: „Ich weiß, dass ich unorthodox bin“. Oder, wie der Rolling Stone sagt, „eine Multi-Instrumentalistin, die sich jeglicher Kategorisierung entzieht.“ Man muss stark sein, um diese Rolle auszufüllen. Zu Chaneys Glück liegt ihre Stärke in ihrer musikalischen Flüchtigkeit und ihrem Talent, ihrer Andersartigkeit. Sie ist diese seltene Sache, ein Original. Und bemerkt dabei zugleich bescheiden, dass Originalität nicht wirklich das ist, wonach sie strebt.

„Ich glaube nicht zu sehr daran. Vielmehr sehe ich Zeit und Kreativität als eine fortlaufende Linie. Und dass wir, wenn wir interessiert, aufmerksam oder vom Glück begünstigt sind, weiterführen können, was in all den Epochen vor uns gesagt wurde.“ Chaney bezieht „große Inspiration sowohl vom Verlust als auch der Bedeutung von Volkskulturen. Ich versuche, dies in ein post-industrielles Zeitalter zu integrieren, während ich mit Menschen auf einer zeitlosen Ebene kommuniziere.“

So sehr sie dafür gepriesen wird, „das Alte neu zu machen“, ist Chaney doch keine Nostalgikerin. Die Songs auf „Shelter“ sind jenseits zeitgebundener Moden. Vielmehr spiegeln sie Chaneys Glauben wider, dass „der übermäßige Versuch, zeitgemäß zu sein, ein überschätztes Konzept ist“. Im „Shelter“-Track „Roman Holiday“ wird die Gegenwart dankbar gewürdigt und ist Ausgangspunkt für das Vor- und Zurückschwingen des Songs zwischen antiker Vergangenheit und der Hoffnung, das „Jetzt“ möge zu einer erfüllten Zukunft führen.

„This is our time/ Under umbrella pines/ . . . maybe joy will win / Maybe this will bring / Fruits we never ate before / A feast on futures lore, that we’re building / Through broken triumphal arches / Thank God, you exist.”

„Shelter“ ist ergiebig und vielschichtig. Es ist zugleich subtil, wunderschön und provokant, seine Musik und Texte stets einprägsam. Und wie Jon Pareles in der New York Times sagte: „Sie ist auf stille Weise radikal.“

Radikal ist nicht zuletzt auch die von Chaney gewählte Ausdrucksform. Mit der Zeit immer weiter veredelt, ist ihre klassische Handschrift das Vermengen von Folk-artiger Instrumentierung und Mainstream-Pop, untermauert mit der Präzision klassischer Musik. Gut veranschaulicht wird dies beispielsweise im Titelsong „Shelter“: 

“In this house / On a hill / Where I’ve come to see / What is real/All I find is illusion / Urgently she sees Spring grow / Build to a stream / On it flows / Till Autumn falls, golden Leaves her silent, scolded...Not wond’ring why the days end / With the sun in the West / At night I hang / From the ledge / By moon, by Pleiades / In all the shining mystery.”

„Ich war viel auf Tour gewesen und kämpfte mit dem Schneid und der Einsamkeit des urbanen Lebens. Ich denke, ich fragte mich zu der Zeit, was Heimat, Zugehörigkeit, ein Gefühl der Sinnhaftigkeit und meine eigene Kultur überhaupt bedeuteten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich finde, dass Heimat notwendigerweise ein spezieller Ort ist. Ich denke, viel öfter ist es dort, wo Liebe wohnt. Ich hatte mich seit langer Zeit nach Wildnis und einer Rückkehr zum Lebensnotwendigsten gesehnt. Dann jedoch, als ich durch die USA tourte, realisierte ich, dass ich diesen Ort, den ich brauchte, längst in meinem Leben hatte. Er war alt, kaum bewohnbar und abgeschieden.“

Daher war „das Zuhause für meine Arbeit an ‚Shelter’ ein bröckelndes Landhaus aus dem 18. Jahrhundert, gelegen in den kargen, aber magischen Hügeln der North Yorkshire Moors – ein Rückzugsort meiner Familie seit meinen Jugendjahren, ohne Elektrizität oder sanitäre Einrichtung, wo das Wasser nur aus einer Quelle kommt. Wir brachten ein Arts and Crafts Bechstein-Klavier dort hinaus und brachten einen alten Holzofen ins Haus. Und als der Sommer den kürzeren, kühleren Tagen des Herbstes wich, prägten das Klavier und der Ofen meinen Aufenthalt.“

Während sie in Yorkshire schrieb, ordnete sich Chaney den Ritualen und Einschränkungen des einfachen Lebens unter. Indem sie sich auf diese Weise isolierte, entdeckte sie, was ihre Bedürfnisse waren, was Zuhause für sie bedeuten könnte, physisch, emotional und kulturell. „Ich begab mich an dunkle Orte, stellte mich einigen meiner Dämonen. Zugleich inspirierte mich der Aufenthalt jedoch auch und wurde zur Metapher für all das, worüber ich schrieb.“

“Everyone rallied round to help me dream / But when I came to that place I did not feel / The way I was supposed to / Things, it seems, that others do / So here I am, free from distraction / Beauty, fear, at my disposal / But I dismiss each kernel as / A start I cannot finish / Give me warmth, give me shelter / Give me food, bring me water / But till I come to befriend and face / The demons do persist” — „Shelter”

„Ich wollte in Bezug auf das Songwriting schon immer mit der romantischen Vorstellung aufräumen, dass man leiden muss, um gute Kunst zu machen. Außerdem wollte ich auch im echten Leben weniger leiden!“ Und doch fand Chaney heraus, dass ihr Umzug in die Wildnis und ein „Haus auf dem Hügel“, ein „Shelter“ (Zufluchtsort) ironischerweise eine Erkundung eben dieser Seite war. „Auf dem Album versuche ich, über die außergewöhnlichen Weisen zu sprechen, in denen sich Menschen ‚sheltered’, behütet, fühlen können – entweder durch ein materielles Gefühl der Sicherheit oder durch Religion oder Spiritualität. Ein Gefühl der Zugehörigkeit transzendiert nicht nur ein Dach über deinem Kopf, sondern auch Bedeutung in deinem Leben.“

„All diese Dinge finden sich in den Songs wieder. Daher trägt das Album den Titel ‚Shelter’. Es ist ein Lobgesang auf das, was die kleine Hütte in den North Yorkshire Moors repräsentiert, ebenso jedoch auf Downtown Manhattan, das übersättigt ist mit all seinem Reichtum und einer wachsenden Zahl Obdachloser, die ich tagtäglich auf meinem Weg ins Studio passiere. Es geht um die Gemeinschaften, denen wir immer dann begegnen, wenn wir einen Schritt vor unsere Türen machen. In diesem Sinne ist ‚Shelter’ vielleicht eine Metapher für Alte Welt versus Neues Welt, Einfachheit versus Verfeinerung und Komplexität, Volkskultur versus Modernität. Ich denke, dass keines dieser Dinge ohne sein Gegenteil möglich ist. Doch es geht darum, wie du es miteinander verbindest und beides für dich annimmst, im Leben und in Kunst, die von Bedeutung ist. Ich war so glücklich, einen Titeltrack zu finden, der als Klammer für die Bedeutung des gesamten Albums steht.“

Chaney hofft, das Album wird „auch für die Hörer ein Zufluchtsort – ein ‚Shelter’“.

—Jayne Checkley

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