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Oliver Earnest

Oliver Earnest by Ilkar Karakurt

Band: Oliver Earnest

Album: The Water Goes The Other Way

VÖ: 26.11.2021

Label/Vertrieb: Glitterhouse / Indigo

Es ist erstaunlich, welche Referenzen einem so durch den Kopf gehen, wenn man das Debütalbum von Oliver Earnest zum ersten Mal hört. Omaha ist da sehr präsent, vor allem Bright Eyes und Cursive. Man denkt an die Mountain Goats und damit an John Darnielle und damit an einen der besten Songtexter aller Zeiten. Man grüßt im Geiste Isaac Brock von Modest Mouse. Wenn es mal ruhiger wird, sphärisch, fühlt man nicht weit von den Balladen der Fleet Foxes entfernt oder am Tisch bei Kerzenschein mit Iron & Wine. Wenn Oliver mal das Pathos in die Stimme lässt, ist man bei The Divine Comedy, und wenn man in die Texte eintaucht, gibt es einige wundervolle Alltagsszenen, die auch in einem Film von Jim Jarmusch passieren könnten. Tja, spätestens hier fällt dann auf: Gar keine deutschen Bands oder Künstler in dieser Liste? Und alles Großkaliber? Und fragt sich: Wie kann denn das eigentlich sein? Bei einem jungen Typen aus Stuttgart, der den Eingeweihten zuvor vielleicht mal als Mitglied der Post-Punk-Band Kaufmann Frust aufgefallen war?

Alles gute Fragen, die wir in diesem Text klären werden. Aber bevor man den zu Ende liest, sollte man zuerst mal in „The Water Goes The Other Way“ reinhören. Damit man merkt, dass hier auf einem Debüt wirklich Erstaunliches passiert – und diese ehrwürdigen Referenznamen nicht aus der Luft gegriffen sind. Schon der Opener ist perfekt gewählt: „Gathering Speed“ heißt er, beginnt mit einer sphärischen Klangfläche, eine Gitarre meldet sich, testet ein paar Akkorde aus, dann nimmt der Song Fahrt auf, die Drums setzen ein – übrigens gespielt von Kevin Kuhn von Die Nerven – und schon taumelt man mit offenem Herzen durch einen wundervollen Gitarrensound, raumfüllend produziert und mitgespielt von Florian Stepper, bevor Oliver Earnest dann mit tiefem Timbre diese Zeilen singt: „You say your life doesn’t feel like an adventure / More like a maze you keep escaping from / Only to realize your back at the centre / After each day is done / There’s another day“. Das Rattenrennen aus Alltag und Ausweglosigkeit, eingefangen in einer Sprache, die poetisch und konkret zugleich ist. Doch trotz der dunklen Zeilen – in denen schon viele Themen, die das Album prägen, anklingen – regiert hier nicht das Selbstmitleid. Vielmehr tastet sich Oliver Earnest mit seinen Mitmusikern durch besagtes Labyrinth, bis man ungefähr nach drei Minuten gemeinsam ins Licht tritt, das Momentum der Musik im Rücken spürt und gemeinsam die anfangs so negativ klingende Zeile „There’s another day“ als positive, strahlende Aussicht in die Sonne singt.

Es sind Empfindungen wie diese, die auch die Arbeit an „The Water Goes The Other Way“ geprägt haben, erzählt Oliver Earnest – der übrigens wirklich Oliver heißt, mit Zweitnamen Ernst, was er dann halb ernst, halb augenzwinkernd ins Englische Earnest übersetzt hat: „‘Gathering Speed‘ ist für mich ein sehr wichtiger Song, nicht nur weil er das Album eröffnet. Es geht um dieses Gefühl des Zweifelns, das wohl jeder Künstler kennt. Man macht Musik, spielt in Bands, und gerade wenn man denkt, man sei inzwischen ganz gut darin, passiert oft eben nicht der große Schritt nach vorne sondern ein kleiner Rückschlag.“ Aber gerade dieses Gefühl habe ihn angetrieben, endlich ein eigenes Album aufzunehmen und zu schauen, wie es um sein Songwriter-Handwerk steht. „Deshalb endet der Song so positiv. Weil jeder Rückschritt auch eine Chance in sich trägt.“ Durch die Arbeit an „The Water Goes The Other Way“ habe Oliver musikalisch ein neues Selbstbewusstsein entwickelt. Das spürt man auch und vor allem in „Cancel Therapy“. Ein Song, dessen Beginn und Refrain vom schönsten Gitarrenflirren begleitet werden, das man seit langem gehört hat – und das selbst Jimmy Eat World so noch nicht hinbekommen haben. Eine Hymne auf alle Musikerinnen und Musiker, die sich jahrelang auf zu kleinen Bühnen das Herz aus der Brust reißen und für zwanzig zahlende und drei zu laut redende Gäste das Konzert ihres Lebens spielen. Kurz vor dem Ende singt Oliver: „Was a long thought but you got rid of it / „If people talk through your songs / It must mean they’re shit“ / Or the thought that where you’ll land eventually / Will almost definitely be obscurity / They’re all gone now.“ Dann entschließt er sich – im Song und im Leben – weiterzumachen, besser zu werden, auf sich, sein Umfeld, seine Kunst zu vertrauen. Diese Lyrics, Olivers selbstbewusst eingesetzte Stimme, der Twist ins Optimistische und die bei all dem fast fröhliche Musik – das alles sei dabei durchaus ein wenig von den Bright Eyes und Conor Oberst inspiriert. „Tatsächlich steht sein Album ‚I’m Wide Awake, It’s Morning‘ ganz am Anfang meines Weges, Songwriter werden zu wollen. Vor allem diese eine Strophe aus ‚Road To Joy‘ habe ich immer wieder gehört. Wo Conor singt: ‚Well I could have been a famous singer / If I had someone else's voice / But failure's always sounded better / Let's fuck it up boys, make some noise!‘“ Diese Mischung aus Trotz und Understatement habe ihn dazu gebracht, selbst mit dem Musikmachen und Singen anzufangen, „obwohl meine Stimme damals kaum der Rede wert war.“

An dieser Stelle sollte man aber mal die Geschichte von Oliver Earnest erzählen und aufklären, warum er so selbstsicher mit der englischen Sprache hantieren kann. Man braucht nämlich schon mehr als einen Englisch-LK, um zum Beispiel diese Szene aus „Life Expectancy“ zu besingen: „I see a wandering east European cowboy / Yelling into his phone / They’re nowhere near to an agreement / And even further away from home.“ Oliver erklärt: „Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, ich sei zweisprachig aufgewachsen. Aber ich habe einen sehr prägenden Teil meiner Kindheit in Colorado verbracht. Als ich drei war, zog mein Vater für seinen Job mit der gesamten Familie dorthin. Wir lebten drei Jahre in den Staaten und ich ging dort in den Kindergarten. Damals hat sich unsere Familie sehr intensiv auf die amerikanische Kultur und die englische Sprache eingelassen. Wir haben zuhause meist Englisch gesprochen, Bücher und Filme im englischen Original gesehen. Deshalb habe ich diese Sprache so verinnerlicht, dass bestimmte Gedankenprozesse bei mir immer noch nur auf Englisch funktionieren.“ In Deutschland habe sich diese frühe Prägung dann in eine offene Liebe verwandelt: Man schaute weiterhin Filme auf Englisch, Oliver las viele englische Bücher – und er achtete von Anfang an mit großer Neugier auf die Lyrics seiner Lieblingsbands. „Ich habe als Teenager viel Metal gehört und selbst da habe ich mir die Texte sehr genau angeschaut – was manchmal keine so gute Idee war.“ Später seien dann eben die Bright Eyes gekommen, und Modest Mouse, und die Mountain Goats und The Cooper Temple Clause, diese ja leider inzwischen recht vergessene Band, die mit „Kick Up The Fire, And Let The Flames Break Loose“ eines der besten britischen Gitarrenalben der Nullerjahre veröffentlicht hat.

Man sollte sowieso eher an Bandalben wie dieses denken, um eine Vorstellung von „The Water Goes The Other Way“ zu bekommen. Auch wenn Oliver noch vor einigen Monaten die Solo-Single „Morning Frost“ rausgebracht hat – eine verweht schöne Folkballade, die man tatsächlich am besten in den frühen Morgenstunden hört – so ist sein Debütalbum doch getrieben von einer Energie, die eher nach einer Band klingt, die Bock hat, als nach einem in sich gekehrten Songwriter, der in einer Waldhütte im Bon-Iver-Style vor sich hin klampft. Dass dem so ist, liegt auch an Olivers Produzenten, dem bereits erwähnten Florian Stepper. Der ist nämlich weit mehr als das: „Man kann seinen Einfluss auf dieses Album nicht stark genug betonen“, meint Oliver. Und erzählt: „Ich habe Flo schon während des Studiums kennengelernt. Wir haben uns in der Zeit vor allem über die gemeinsame Begeisterung für Musik angefreundet. Wir waren zum Beispiel beide große Fans von Gisbert zu Knyphausen.“ Mit Florian habe er dann viele Konzerte besucht und recht schnell Kaufmann Frust gegründet – eine ebenfalls sehr unterschätzte, weil ziemlich gute Band, die es trotz Olivers Soloscheibe auch weiterhin geben wird. „Florian lebt inzwischen in Berlin, ist zum Beispiel der Tour-Gitarrist von Lea Porcelain, und arbeitet als Produzent in einem Studio im Funkhaus. Meist lief es so, dass ich die Songs schrieb und schon erste, sehr rudimentäre Demos aufnahm. Ich bin dann alle paar Woche nach Berlin gereist und wir haben gemeinsam weiter daran gearbeitet.“ Es gäbe auch ein paar Songs, bei denen Flos Anteil die Produktion komplett bestimmt: „Bei ‘Crosswords‘ war das extrem. Da hatte ich wirklich nur Klavier und Gesang und der Rest ist von ihm.“ Dieser „Rest“ umfasst nicht nur einen sehr originellen Beat, sondern auch faszinierende Störgeräusche, wie man sie von den letzten Instrumental-Alben von Nine Inch Nails kennt und ein atmosphärisches Streicherarrangement. „Flo hat in mein Album viel Zeit, Kreativität und Arbeit reingesteckt. Weil es für ihn die erste große Eigenproduktion auf Albumlänge war, aber auch weil wir sehr gut befreundet sind und er ganz unabhängig davon, meine Lieder stark fand.“ Dann lacht Oliver und sagt: „Ich muss noch lernen, mit so positivem Feedback umzugehen.“ Für die Drum-Parts holten sie dann Kevin Kuhn dazu – ebenfalls ein langjähriger Weggefährte und Kollege, den sie aus ihrer Stuttgart-Zeit kennen. „Wir waren selbst ein wenig überrascht, wie kohärent und bandmäßig das Album am Ende klang, obwohl der Arbeitsprozess ja schon sehr zerstückelt war“, findet Oliver.

Die Wirkung dieser Musik beschreibt übrigens eine weitere Oliver-Earnest-Zeilen sehr gut. Die meint zwar im Lied was anderes, könnte aber auch als Empfehlungssticker auf dem Cover kleben: „Filling your ears with sound / More than the usual amount.“ Diese Beobachtung führt direkt ins dunkle Herz inmitten des Spannungsfelds zwischen diesen Melodien, die einen in den Arm nehmen wollen, und die Texte, die an schwarzen Gedanken rühren. „The Usual Amount“ meint nämlich auf der Platte eigentlich das: „The venom you’ve kept locked up inside / Wants to see the light of day / All the while you remind yourself of the way / Your voice resonates / Filling your ears with sound / More than the usual amount.“ Oliver überlegt kurz, und sagt dann: „Wer aufmerksam zuhört, wird schon merken, dass ich manchmal sehr dunkle Phasen habe. Es kommt nicht von ungefähr, wenn ich in ‚Cancel Therapy‘ singe: ‚Cancel Therapy in weeks that you’re playing shows / Call your therapist in panic when nobody shows up.‘“ Generell ginge es schon oft um Mental Health Dinge in diesen zehn Liedern. Aber: „Ich finde es eklig zu sagen, Songschreiben sei wie eine Therapie. Ich glaube nicht daran, dass es einem irgendwie Klarheit verschafft, wenn man versucht, ein Lied über seine depressiven Phasen zu schreiben. Aber dieser Aspekt ist Teil meiner Persönlichkeit – und das spiegelt sich natürlich in den Songs wider. Weil ich schon merke, dass es eine Rolle spielt, wenn es einem nicht immer so geil geht. Es prägt den Blick auf die Dinge – wie man sie wahrnimmt und einschätzt. Trotzdem würde ich zu keinem Zeitpunkt sagen, dass sei wie eine Therapie. Zum einen entwertet man damit diesen so wichtigen Prozess einer professionellen Therapie, zum anderen aber auch das songwriterische Handwerk. Man sagt damit ja quasi, man könne nur so schreiben, weil man krank sei. Dabei erschwert es die Arbeit ja eher noch, und man muss vielleicht sogar mehr hadern und kämpfen, um ein Lied zu schreiben, mit dem man selbst zufrieden ist.“ Ein weiteres Kernthema der Platte sei das Thema Beziehungen: „Gar nicht unbedingt die eigenen Liebesbeziehungen, es ist eher ein persönlicher, retrospektiver Blick auf enge Verbindungen zwischen Menschen. Mich faszinieren so kleine Details oder Beobachtungen, aus denen man größere Erkenntnisse ziehen kann.“ Wie das zusammengeht, beschreibt „Full House“ sehr gut – eine schöne, aber gnadenlose Entliebungsballade. Oliver wurde dabei von einer persönlichen Beobachtung auf einer Party inspiriert: „Das war so eine Gartenparty bei einem Ehepaar. Die hatten gerade verkündet, dass sie ein zweites Kind haben werden. Und sie hatten im Garten so eine Hecke gepflanzt, damit die Nachbarn nicht mehr rüber schauen können. Oberflächlich der reinste Eigenheim-plus-Family-Traum – aber nach einer halben Stunde war ich so schockiert von diesem Paar: Die waren so widerlich zueinander und haben keine Möglichkeit ausgelassen, sich vor anderen runterzumachen.“ Mit dem gnadenlosesten Entliebungsalbum der Musikgeschichte im Sinn – „Tallahassee“ von den Mountain Goats (Anspieltipp: „No Children“) – schrieb Oliver also „Full House“ und diese Zeilen: „We planted privet seeds / To provide some privacy / Been watering them daily since / But I’m not quite convinced / That They’ll grow fast enough to hide / The things we’ve grown to despise.“

Dieses Album gehört allerdings eher zu den Dingen, die in Richtung Herz wachsen. Und auch wenn es mit „Your Grand Plan“ endet – wieder ein aufbauend instrumentierter, aber niederschmetternder Song, der lyrisch die Hoffnungslosigkeit auslotet – wünscht man Oliver Earnest und seiner Musik, dass beide jenes Momentum entwickeln, dass er in „Gathering Speed“ besingt. Denn – und da kämen wir jetzt doch mal zu einer deutschen Referenz – so viel internationalen Drang und Klang auf einem Debüt hat man zuletzt vielleicht bei „Rest Now, Weary Head! You Will Get Well Soon“ gespürt.

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